Moldawien: Verbot einer Oppositionspartei, die in den Umfragen auf dem Vormarsch war
Eine Analyse von Petr Lawrenin
Am 19. Juni wurde in Moldawien zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1991 eine politische Partei verboten. Nach einem Prozess, der in Moldawien breite öffentliche Empörung hervorrief, ordnete das Verfassungsgericht der Republik Moldawien die Auflösung der Partei Șor an. Moldawiens pro-westliches Establishment hält die Partei für "pro-russisch", während Gründer Ilan Șor in sein Geburtsland Israel geflohen ist, um einer Inhaftierung zu entgehen.
In den vergangenen Monaten veranstalteten die Anhänger der Partei Kundgebungen, bei denen sie niedrigere Stromrechnungen und eine Erhöhung der Sozialleistungen forderten. Darüber hinaus widersetzte sich die Partei allen Gesprächen über eine Vereinigung Moldawiens mit Rumänien und jedem Versuch, die nicht anerkannte Republik Transnistrien, in der seit 1992 russische Friedenstruppen stationiert sind, gewaltsam zu erobern.
Das Verbot hat zu Massenprotesten und einer Spaltung des politischen Establishments geführt. Neben Klagen über eine Usurpation der Macht und eine sich verschlechternde Wirtschaft – die nach Ansicht vieler auf den Abbruch der Beziehungen zu Russland zurückzuführen sei – wird Moldawiens vom Westen unterstützte Präsidentin Maia Sandu nun beschuldigt, gegen die Demokratie und die Verfassungsprinzipien des Landes verstoßen zu haben.
Kein einziges Wort über Demokratie
Auf Initiative vom damaligen Justizminister Sergiu Litvinenco legte die Regierung Moldawiens im vergangenen Herbst beim Verfassungsgericht Berufung ein, um Șor zu verbieten.
"Die Partei wurde von Oligarchen für Oligarchen gegründet. Ihr Ziel war es von Anfang an, die Idee der Demokratie zu diskreditieren und eine öffentliche Unterstützung vorzutäuschen. Die Partei wurde als Ableger oder politisches Instrument einer organisierten kriminellen Gruppe gegründet", sagte der Minister damals.
Im vergangenen Dezember erklärte die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission), dass mit einem Verbot der für verfassungswidrig erklärten Partei das Recht auf Vereinigungsfreiheit verletzen werde. Doch selbst dies konnte den Prozess, der schließlich zu dem Urteil führte, nicht verhindern. Am 19. Juni erließ das Verfassungsgericht der Republik Moldawien ein Urteil zur Auflösung der Partei aufgrund illegaler Finanzierung und angeblicher Bestechung von Wählern und Teilnehmern von Kundgebungen.
Laut Gerichtsbeschluss galt die Partei ab dem Zeitpunkt der Urteilsverkündung als mit sofortiger Wirkung aufgelöst und ihr Eigentum muss dem Staat übergeben werden. Ihre Abgeordneten behalten zwar ihre Mandate, können aber keine Fraktion mehr bilden oder sich anderen Fraktionen anschließen. Alle von der Partei erlassenen Dokumente haben keine Rechtskraft mehr, und das Justizministerium wird in Kürze einen Sonderausschuss bilden, der für die Beendigung der Aktivitäten der Partei und ihren Ausschluss aus dem staatlichen Register der juristischen Personen zuständig sein wird.
Die Entscheidung wurde von Vertretern der pro-europäischen Partei der Aktion und Solidarität einstimmig unterstützt. Die Präsidentin von Moldawien, Maia Sandu, sagte, Șor sei eine politische Macht, die "aus Korruption für die Korruption" geschaffen wurde, wodurch "die verfassungsmäßige Ordnung und Sicherheit des Staates bedroht" werde.
"Die Bürger Moldawiens haben immer ihre Freiheit verteidigt und gleiches Recht für alle gefordert. Die Republik Moldawien muss ein Staat werden, der die Korrupten bestraft und sie daran hindert, den Staat und öffentliche Gelder zum persönlichen Vorteil zu nutzen. Nur ein Staat, der von denen befreit ist, die ihn bestehlen, kann seinen Bürgern Wohlstand bieten", sagte die Präsidentin.
01 – Die moldawische Präsidentin Maia Sandu. @ Daniel Mihailescu / AFP
Die Entscheidung, die Partei zu verbieten, könnte jedoch auf völlig anderen Motiven beruhen als dem Kampf für "demokratische Werte", denn in Wirklichkeit war Șor zur wichtigsten Oppositionsplattform in Moldawien geworden. Die Partei befürwortete eine Rückkehr zu normalen Beziehungen zu Russland, was dem Land helfen würde, die aktuelle Wirtschaftskrise zu überwinden, und lehnte einen EU-Beitritt und eine mögliche Vereinigung mit Rumänien ab.
Darüber hinaus ist es der Partei und ihren Abgeordneten durchaus gelungen, die Gunst der Bevölkerung zu gewinnen. Beispielsweise gewann im Mai dieses Jahres in Gagausien – einem russischsprachigen autonomen Gebiet im Südosten Moldawiens – Jewgenia Guțul die Regionalwahlen, eine Kandidatin der Șor. Die moldawischen Behörden interpretierten dies als Aufruf zum Separatismus, schickten Spezialeinheiten in die Region und drohten mit der Annullierung der Wahlergebnisse aufgrund einer angeblichen "Wählerbestechung", scheiterten jedoch letztlich daran. Die Behörden planen nun, darauf zurückzukommen und das Verbot der Șor zu nutzen, um den Wahlsieg von Guțul ungültig zu machen.
Die Partei selbst nannte das Urteil des Verfassungsgerichts erwartungsgemäß "beschämend, gefährlich und beispiellos". In der offiziellen Erklärung hieß es, Moldawien sei "das erste Land in Europa, in dem eine Oppositionspartei verboten und aufgelöst wurde". In Wirklichkeit trifft dies jedoch nicht zu. So wurde beispielsweise auch die größte Oppositionspartei der Ukraine, die Oppositionsplattform "Für das Leben", im vergangenen Jahr verboten und aufgelöst. Ferner behaupten die Vertreter der Șor, die Richter hätten mit direkter Zustimmung der US- und EU-Botschaften gehandelt.
Die Frage, ob das Verbot legal ist, hat die politische Elite Moldawiens gespalten. So sagte beispielsweise der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichts des Landes, Alexandru Tănase, dass die Entscheidung des Gerichts verfassungswidrig sei und warnte, dass dies ein Zeichen für künftige Säuberungen sei:
"In der Republik Moldawien wird bei jedem Regierungswechsel auf parlamentarischer Ebene das gesamte System der öffentlichen Verwaltung, einschließlich des Justizsystems, neu untergeordnet. Daher müssen wir verstehen, dass dieser Präzedenzfall für künftige politische Säuberungen genutzt werden könnte, wenn es auf parlamentarischer Ebene zu politischen Veränderungen kommt."
Auch Moldawiens zweitgrößte Partei, die Partei der Sozialisten (PSRM) unter der Führung des ehemaligen Präsidenten Igor Dodon, der von 2016 bis 2020 im Amt war, sprach sich für die Șor aus.